Heute war ich auf dem Weg zur Post und während ich mich so in meiner
wohlbekannten Umgebung umsah, wurde mir klar, dass mir das alles vor einiger
Zeit selbst sehr fremd war. Dass ich nicht immer so selbstverständlich durch
Indiens Straßen gegangen war. Dass es eine Zeit des Wunderns und Staunens gab.
Dass meine Augen mittlerweile indisch geworden sind. Und plötzlich dachte ich
an Euch zu Hause in Deutschland und da war es wieder, das Staunen, das Wundern
und das Bemerken kleinster Details. Nichts war mehr selbstverständlich.
Und so will ich mich nun mit Euch nochmal auf den Weg zur Post zu
machen.
Ein später Nachmittag in einer indischen Stadt. Die Schule ist aus,
Kinder spielen auf der Straße. Es ist angenehm warm. Vor unserem Haus treffe
ich auf Sindhu. "Hi akka, Oota aytha?", nur in Indien fragen sie, ob
man gegessen hat statt sich nach dem Wohlbefinden zu erkundigen. Das ist wohl
gleichwertig. Sindhu nickt zufrieden als ich sie das Gleiche frage.
Ich biege nach rechts. Vor dem Hotel, wo wir oft Sambar kaufen, spielen
die beiden Söhne des Besitzers. Den älteren der beiden sehe ich oft Zwiebeln
schneiden oder Puris fritieren, Hotel heißt in Indien soviel wie Cantine. Der
Jüngere ist der kleine Raja (König) unserer Straße. Mit seinen 3 Jahren, dem
süßen Gesicht und seinem selbstbewussten Charme verzaubert er ausnahmslos
jeden. Ich grüße ihn übertrieben "Hiiiiiiii Dhigaaaan!!!" Er grinst
und ahmt meinen Gruß nach.
Am Gemüse-Shop vorbei biege ich an der Ecke mit der Cafe Junction ab,
einem Shop an dem man zu jeder Tageszeit Männer ihren Chai schlürfen sehen
kann. An der Garage vorbei, wo sie jegliche Schmiedearbeiten verrichten. Der
Besitzer erkennt mich und nickt mir zu, er hat uns etliche Male geholfen, als
das Kabel aus unserem Stromzähler rausgefallen oder durchgebrannt war.
Diese Straße ist belebter als unsere. Rikschas, Motorräder und Autos
quetschen sich aneinander vorbei, nicht ohne das obligatorische Hupen. Auf eine
Kreuzung zufahrend bedienen sie statt der Bremse die Hupe. So etwas wie eine
Ordnung scheint es nicht zu geben, die lauteste Hupe gewinnt.
Rechts und links leuchten die bunten Schilder der Shops. Manche Läden
sind zugeklastert mit roten und gelben Vodafone, airtel und idea Schildern, die
zum sim-Karten-Aufladen auffordern. Dahinter verbergen sich dann doch mehr als
nur Handytarife. Diese Shops haben oft alles von Zucker über Seife bis hin zu
Bleistiften.
Von der anderen Straßenseite weht mir ein köstlicher Geruch entgegen.
Ein geschickter Koch versorgt einige Umstehende mit würzigen Snacks von seinem
Straßenwagen. Der Geruch lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, obwohl
ich nicht ausmachen kann, was er dort verkauft. Leider habe ich keine Zeit,
nachzusehen, die Post macht nämlich schon um 5 zu.
Als ich den Blick an den Häusern empor schweifen lasse, begegne ich den
Blicken zweier Frauen, die sich angeregt auf dem Treppenansatz unterhielten und
mir nun neugierige Blicke zuwerfen. Ich lächle leicht, sie erwidern mein
Lächeln. Mein Blick zieht weiter über bunte zum Trocknen aufgehängte Wäsche zu
einer großen Werbetafel, auf der Shahrukh Khan Wandfarbe anpreist. Komisch,
letztens habe ich ihn noch auf einem Mangosaft-Trinkpäckchen grinsen sehen.
Die Straße macht einen kleinen Knick und mündet in einen holprigen
Sandpfad, auf dem ein verstruppelter Hund meinen Weg kreuzt. Er scheint keine
Notiz von mir zu nehmen und während ich in Deutschland manchmal die
Straßenseite wechsle, wenn mir ein Hund entgegen kommt, tue ich es hier dem
Hund gleich. Er geht seinen Weg, ich meinen. Indische Hunde sind mir irgendwie
lieber als deutsche.
Als ich das Gesicht von Brad Pitt sehe, weiß ich, dass ich fast da bin.
Brad schaut mit seinem Hundeblick und kurzen Haaren von einem Aushängeschild
eines Friseurs auf mich hinab. Das Bild hat schlechte Qualität und ist
vermutlich aus den neuzigern. Gleich daneben ein ebenso vertrautes Gesicht.
Britney Spears mit ihrem gekünstelten Lächeln und einer blonden Mähne, die
keiner Inderin so recht stehen würde. Anders als das Bild von Britney, mag ich
das Bild von Brad "Ach hi Brad, schön dich zu sehen!"
Die Post ist beunruhigend leer. Es ist doch erst four-thirty, wo sind
denn alle? Doch da am Briefmarkenschalter sitzt die mir schon bekannte Beamtin
in ihrem üblichen braunen Sari, ihrer Uniform. Sie lächelt, nimmt meinen Brief,
legt ihn auf die Wage und sagt "Aid Rupai!" Dabei macht sie mit der
Hand eine Bewegung wie ein zuschnappendes Krokodil. Sie ist sich offenbar nicht
sicher, ob ich verstanden habe, dass ich 5 Rupien zu zahlen habe. Ich habe aber
auch meine Zweifel, ob jemand, der die Zahlworte nicht kennt, versteht, dass
das mit fünf Fingern zuschnappende Krokodil "fünf" heißt. Wie auch
immer, ich wackel mit dem Kopf, lege eine 10 Rupien Note auf den Schalter,
mache ein verzweifeltes Gesicht und sage mit entschuldigender Miene
"change illa". Als ob es meine Schuld wäre, dass ich keine 5 Rupien
in Münzen hätte, aber das kommt immer gut an.
Die Briefmarke bestreiche ich unbeholfen mit einem ausrangierten
Kugelschreiber, der in einem beschmierten Topf voller Flüssigkleber steckt. Ich
hab es bis jetzt noch nie geschafft, mich dabei nicht einzusauen.
Den Brief einsteckend passiere ich den Briefkasten vor der Post und
mache mich auf den Rückweg. Nun wieder mit indischen Augen. Eigentlich ist das
alles doch recht unspektakulär. Normal halt.