Montag, 30. September 2013

"Oh man, das hört sich an, wie in einem Bollywoodfilm"

Sie schaute auf das weite Meer hinaus, die Wellen umspielten warm und angenehm ihre Füße. Ihr Atem ging gleichmäßig mit dem beruhigenden Rauschen. Nur hier, an diesem Ort, fand sie den Trost, nach dem sie sich sehnte. Nur hier konnte sie für sich sein und war doch nicht allein.
"Warum kommst du so spät? Was machst du eigentlich die ganze Zeit am Strand?! Was gibt es denn da für dich? Wasch dich und komm zum Essen!"
Schweigend aß sie und ließ sich danach erschöpft ins Bett fallen. Allein in ihrem Raum, in dem es unangenehm hallte, nachdem die Mutter das zweite Bett, nun unnötig geworden, weggeräumt hatte. Ein Gefühl von Einsamkeit machte sich in diesem Raum breit, der ihr nun fremder erschien denn jemals zuvor.
Seit dem Tag, an dem sie die Kontrolle verloren hatte, zog die Welt wie eine Art Film an ihr vorbei. Sie fühlte zwar ihren Körper, der automatisiert den Alltag bestritt. Doch ihre Gedanken waren ganz woanders. Der einzige Ort, an dem Körper und Geist wieder zu einem verschmolzen, war der Strand. Das war es, was es dort für sie gab.
"Hi! What´s your name? Where are you from? What are you doing here?" - "Hi!"
Sie hatte nicht sonderlich Lust, sich zu unterhalten. Dieser Ort war ihre Zuflucht. Auch hier nicht frei von den Fragen zu ihrer Herkunft und ihrer Beschäftigung zu sein, darauf wollte sie sich nicht einlassen. Dennoch antwortete sie dem Jungen, der sich aus einer Gruppe seiner Freunde herausgleöst hatte. Knapp, freundlich aber dennoch unmissverständlich waren ihre Antworten. Der Junge fragte nicht weiter, lief schweigend neben ihr her.
In den nächsten Tagen sah sie den Jungen am Strand, umringt von seinen Freunden. Sie fing an, über ihn nachzudenken, als er sie beim Namen nannte, was ihr nicht selbstverständlich vorkam. Was sie nicht erwartet hatte. So kam es, dass er sich zu ihr in den Sand setzte in einigem Abstand. Er ließ ein wenig Zeit verstreichen, bevor er began sie auszufragen. Auch wenn es nicht das war, was sie an diesem Ort suchte, war es doch eine willkommene Abwechslung und seit Langem fühlte sie sich wieder lebendig als er mit ihr sprach.
"Gibst du mir deine Nummer?" -"Nächstes Mal"
Es gab noch einige nächste Male. Sie dachte kaum an ihn, genoß es aber dennoch, wenn sie mit ihm zusammen war. Er empfand es scheinbar ebenso. Denn nachdem sie einige Tage nicht zum Strand gekommen war, brachte er seine größte Erleichterung darüber zum Ausdruck, dass sie wieder aufgetaucht war. Mittlerweile hatte sich eine Art Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Doch sie bemerkte erst, wie wichtig er ihr geworden war, nachdem er mehrere Wochen später, seine Liebe gestand. Sie wollte ihn nicht verlieren, wusste aber auch nicht, ob es Liebe war, was sie für ihn empfand. Sie bat um etwas Zeit.
Ohne Gedanken an Abschied oder Zukunft, gab sie schließlich dem immer wachsenden Gefühl in ihr nach. Mit ihm war sie wieder lebendig, konnte sie selbst sein, fühlte sich nicht mehr allein. In der darauf folgenenden Zeit waren sie beide so glücklich, wie nur frisch Verliebte es sein können.
Doch mit ihrer wachsenden Liebe, wuchs auch das Misstrauen, der Leute, die sie umgaben. Autoritäten, denen sie verpflichtet war, brachten ihr Missfallen über aufkommende Gerüchte deutlich zum Ausdruck. Sie wurde vorsichtiger, hatte das Gefühl, sich ständig verstecken und rechtfertigen zu müssen. Als der Druck von allen Seiten sie zu brechen drohte, passierte das, wovor sie sich so sehr gefürchtet hatte. Wieder verlor sie die Kontrolle. Erwacht aus ihrer Ohnmacht, strömte das Bewusstsein über ihre Lage mit voller Wucht auf sie ein. Abhängig von Autoritäten einerseits, abhängig von ihrer Liebe andererseits, sah sie sich vor einem scheinbar unlösbaren Konflikt. Fieber, Schweiß und Tränen bemächtigten sich ihres Körpers, Verzweiflung ihrer Gedanken. Unfähig, sich zu bewegen, lag sie in ihrem Bett, fühlte sich dem Leben ausgeliefert und so allein wie nie zuvor.
"Siehst du, ich habe es doch immer gesagt. Warum treibst du dich auch draußen rum? Du bist so ein hübsches Mädchen und nun hat es dich erwischt, der Teufel hat sich deiner bemächtigt. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen."
Hatte sie zuvor im Paradies geschwebt, war sie nun auf den harten Boden der Realität zurückgeholt worden. Und statt ihre labile Lage zu bemerken, nahmen sie die Autoritäten erneut ins Kreuzfeuer . "Gibt es wirklich nichts, was du mir sagen möchtest?!"
Ihre größte Angst war, den Jungen zu verlieren, den sie liebte. Nun war sogar die Angst vergessen, der sie zuvor erlegen war. Doch sie verlor sich nicht in dieser Angst, sie wusste, was sie wollte und war bereit, dafür zu kämpfen. Also entschloss sie sich dazu, sich mitzuteilen und zwar dem Menschen, dessen Willkür sie am meisten fürchtete. Auch wenn sie seinen Respekt für immer verlor, gewann sie diesen Kampf letztendlich doch.
Ihre Familie fand sie in einer Welt, die sich in Vielem von der ihren unterschied. Sie fanden sie als einen Teil dieser Welt, wenn auch nicht vollkommen. Und sie fanden den Jungen an ihrer Seite. Die gemeinsam verbrachten Tage waren die glücklichsten ihres Lebens. Sie war mit der Welt im Einklang. Später sollte sie sich noch oft an diese goldenen Tage des Glücks erinnern. Denn danach überkam sowohl den Jungen als auch sie eine große Traurigkeit. Der Abschied von der Familie machte ihnen zum ersten Mal bewusst, dass nichts von Dauer ist in diesem Leben. Ihre Zeit war bemessen. Was sich anfühlte wie für immer, sollte es wirklich schon so bald vorbei sein?
Sie suchten nach Möglichkeiten, zu umgehen, was so unumgänglich schien. Und tatsächlich fanden sie grüne Halme der Hoffnung, an die sie sich zu klammern suchten. Halme, die sie die Zeit genießen ließen, die ihnen zusammen in dieser Welt geblieben war. Es war eine Zeit, in der sie jeden Tag lebten, als wäre es ihr letzter. Eine Zeit, die sie einander so nah brachte, dass sie glaubte, ihn schon ewig zu kennen. Eine Zeit voller Lachen und selbst als der Regen kam voller Sonnenschein.
Doch der Tag kam, an dem sie verließ, was sie zu lieben begonnen hatte. Es fühlte sich nicht richtig an, den Jungen zurück und seinem Leid zu überlassen. Sein Schmerz war der ihre. Seine Tränen mischten sich mit denen auf ihren Wangen. Das Letzte war eine zitternde Hand zum Gruß erhoben, bevor sich der Blick zum Boden wandte auf die Schritte, die sie forttrugen in ein anderes Leben.
Dieses Leben schien unbegreiflich für sie. Wie ein Traum, an den man sich kaum noch erinnern kann. Ständig ihren Fingern entrinnend, je mehr sie versuchte es zu greifen. Statt zu leben, hing sie ihrer Sehnsucht nach, konnte sein Gesicht, seine Berührung, seine Stimme nicht vergessen. War gefangen zwischen zwei Welten. Lebte weder hier noch dort.

Bis zu dem Tag, an dem sie zurückkehrte in eine Welt mit ihm...


http://www.youtube.com/watch?v=GcwRnyUbseM